Alleinarbeit: Wer hilft, wenn etwas passiert?

Es kommt häufig vor, dass Beschäftigte ihre Arbeit allein erledigen, das heißt außerhalb von Ruf- und Sichtweite zu anderen Personen. Das können die Außendienstmitarbeiterin an ihrem Telearbeitsplatz sein, der Forstarbeiter im Wald oder die Lagerkraft in unübersichtlichen Hochregal-Hallen. Doch wer hilft, wenn bei dieser sogenannten Alleinarbeit etwas passiert? Wenn ein Unfall geschieht, gefährliche Stoffe freigesetzt werden oder elektrische Gefährdungen wie etwa Störlichtbögen entstehen? Um Erste Hilfe zu gewährleisten, muss die Rettungskette angestoßen werden, und zwar insbesondere dann, wenn betroffene Beschäftigte selbst nicht mehr dazu in der Lage sind. Und es ist die Pflicht des Arbeitgebers, dafür zu sorgen, dass das reibungslos klappt. Das geht aus Paragraph 10 Absatz 1 des Arbeitsschutzgesetzes (ArbSchG) hervor: „Der Arbeitgeber hat entsprechend der Art der Arbeitsstätte und der Tätigkeiten sowie der Zahl der Beschäftigten die Maßnahmen zu treffen, die zur Ersten Hilfe, Brandbekämpfung und Evakuierung der Beschäftigten erforderlich sind. Dabei hat er der Anwesenheit anderer Personen Rechnung zu tragen. Er hat auch dafür zu sorgen, dass im Notfall die erforderlichen Verbindungen zu außerbetrieblichen Stellen, insbesondere in den Bereichen der Ersten Hilfe, der medizinischen Notversorgung, der Bergung und der Brandbekämpfung eingerichtet sind.“ Konkretisiert wird dieser Grundsatz durch Paragraph 4 Absatz 5 der Arbeitsstättenverordnung (ArbStättV) – „Der Arbeitgeber hat beim Einrichten und Betreiben von Arbeitsstätten Mittel und Einrichtungen zur Ersten Hilfe zur Verfügung zu stellen und regelmäßig auf ihre Vollständigkeit und Verwendungsfähigkeit prüfen zu lassen.“ – sowie durch Paragraph 8 Absatz 2 und Paragraph 25 Absatz 1 der DGUV Vorschrift 1 „Grundsätze der Prävention“. Hier wird der Unternehmer verpflichtet, bei Alleinarbeit über die allgemeinen Schutzmaßnahmen hinaus für geeignete technische oder organisatorische Personenschutzmaßnahmen zu sorgen und „durch Meldeeinrichtungen und organisatorische Maßnahmen dafür zu sorgen, dass unverzüglich die notwendige Hilfe herbeigerufen und an den Einsatzort geleitet werden kann.“

 

Zunächst stellt sich jedoch eine andere Frage: Ist Alleinarbeit im konkreten Fall überhaupt zulässig? Die Antwort ist nicht ganz einfach. Zwar haben die Unfallversicherungsträger bei einigen Tätigkeiten Alleinarbeit von vornherein verboten, beispielsweise beim Einsteigen und Einfahren in Silos, bei Arbeiten im Gleisbereich oder bei Sprengarbeiten sowie bei Arbeiten mit Atemschutzisoliergeräten. Aber in allen anderen Fällen der Alleinarbeit muss der Arbeitgeber eine Risikobeurteilung durchführen, die sich gemäß DGUV Regel 112-139 „Einsatz von Personen-Notsignal-Anlagen“ aus der Gefährdungsstufe, der Notfallwahrscheinlichkeit und der Zeit bis zum Beginn von Hilfsmaßnahmen ergibt. Die DGUV Regel enthält ein detailliertes Berechnungsschema, wie das Risiko ermittelt werden kann und definiert, wann Alleinarbeit allein aufgrund des Zusammenspiels der relevanten Faktoren verboten ist: „Alleinarbeit ist nicht zulässig, wenn beim Vorliegen einer kritischen Gefährdung die Wahrscheinlichkeit eines Notfalls als hoch eingestuft werden muss.“

 

Zur rechnerischen Ermittlung des Risikos R und der entsprechenden Ableitung von Maßnahmen wird am Anfang anhand einer Tabelle die Gefährdungsstufe ermittelt. Sie kann „gering“, „erhöht“ oder „kritisch“ sein. Daraus ergibt sich eine Gefährdungsziffer (GZ), die von 1 bis 10 betragen kann, wobei 1 für die geringsten Gefährdungsfaktoren steht, „die bei der allein arbeitenden Person geringe Verletzungen beziehungsweise geringe akute Beeinträchtigungen der Gesundheit bewirken können. Die Person bleibt handlungsfähig.“

 

Die DGUV Regel 112-139 besagt, dass sich bereits durch die Einteilung in die Gefährdungsstufen Konsequenzen ergeben können:

„Gefährdungsstufe gering: Bei einer geringen Gefährdung ist eine Überwachung von Einzelarbeitsplätzen grundsätzlich nicht erforderlich.

Gefährdungsstufe erhöht: Bei einer erhöhten Gefährdung ist eine Überwachung des Einzelarbeitsplatzes, zum Beispiel durch Kontrollgänge oder Kontrollanrufe, erforderlich, wenn die Notfallwahrscheinlichkeit nicht höher als mäßig einzustufen ist. Ist die Wahrscheinlichkeit eines Notfalls als hoch einzustufen, wird eine ständige Überwachung erforderlich, wie sie bei kritischen Gefährdungen vorgeschrieben ist.

Gefährdungsstufe kritisch: Bei einer kritischen Gefährdung ist eine ständige Überwachung erforderlich, zum Beispiel durch eine zweite Person, eine Personen-Notsignal-Anlage, ein Video-Einrichtung im Dauerbetrieb.“

 

Nun wird zudem die Notfallwahrscheinlichkeit (NW) definiert, die „gering“, „mäßig“ oder „hoch“ sein kann. Auch ihr wird ein numerischer Wert von 1 bis 10 zugeordnet. Die 10 bedeutet, dass auch unter normalen Umständen sehr mit Notfällen zu rechnen sei und unter ähnlichen Arbeitsbedingungen Notfälle wiederholt aufgetreten seien.

 

Im letzten Schritt wird zur abschließenden Beurteilung des Risikos die Zeit zwischen dem Auslösen des Personen-Alarms und dem Beginn von Hilfsmaßnahmen am Ort des Geschehens hinzugezogen. Die Erstversorgung (EV) erhält die Bewertungsziffer 0, wenn sie in kurzer Zeit, das heißt in weniger als fünf Minuten, erfolgen kann. Die Bewertungsziffer 1 wird vergeben, wenn die Erstversorgung innerhalb einer mittleren Zeitspanne von fünf bis zehn Minuten gewährleistet ist. Und die Bewertungsziffer 2 bedeutet, dass mit einer Erstversorgung erst nach einer langen Zeitspanne zwischen zehn und 15 Minuten gerechnet werden kann.

 

Über die Formel R = (GZ + EV) x NW wird daraufhin errechnet, ob das vorhandene Risiko akzeptabel oder nicht akzeptabel ist. Der Wertebereich kann zwischen R = (1+0) x 1 = 1 und dem Maximalwert R = (10+2) x 10 = 120 liegen. „Für ein akzeptables Risiko darf R einen Wert von 30 nicht überschreiten. Bei Überschreitung dieses Werts (nicht akzeptables Risiko, Gefahrfall) sind zusätzliche technische und organisatorische Maßnahmen zur Risikominimierung zu treffen, so dass sich die Gefährdungsziffer oder die Notfallwahrscheinlichkeit zuverlässig verringern. Sind Maßnahmen zur Risikominimierung nicht möglich und ist R größer als 30, ist eine Alleinarbeit nicht zulässig“, macht die DGUV klar.

 

Nachdem die Prüfung der Zulässigkeit von Alleinarbeit erfolgt ist und diese Alleinarbeit nicht nur mit der Gefährdungsstufe „gering“ eingestuft wurde, also eine Überwachung nicht erforderlich macht, muss der Arbeitgeber nun technische oder organisatorische Maßnahmen treffen, um die Erstversorgung im Notfall sicherstellen zu können. Mittel der Wahl sowohl in der Praxis als auch entsprechend der Empfehlung der DGUV, wenn keine zweite Person oder dauerhafte Videoüberwachung umsetzbar sind, sind die sogenannten Personen-Notsignal-Anlagen (PNA-11). Sie gewährleisten, dass sowohl „willensabhängig“ als auch „willensunabhängig“, das bedeutet bei einer durch Personen-Notsignal-Gerät (PNG) wahrgenommenen Anomalie, ein Notsignal mit den Daten zur Lokalisierung an eine definierte Personen-Notsignal-Empfangszentrale (PNEZ) und damit direkt an die Rettungskräfte sendet. Die Auswahl und der Funktionsumfang der ausgewählten PNA-11 richten sich nach den in der DGUV Regel 112-139 ausführlich dargestellten Kriterien.

 

Wichtig zu wissen ist jedoch, dass die DGUV eine PNA-11 bewusst von Notruf-Apps für Smartphones abgrenzt: „Die Absicherung gefährlicher Alleinarbeit (erhöhte bis kritische Gefährdungsstufe) allein mit einer Notruf-App reicht aufgrund des geringen Sicherheitsniveaus in der Regel nicht aus. In diesen Fällen ist die Verwendung einer PNA-11 erforderlich. Der Einsatz derartiger Apps ist aber durchaus möglich, wenn die auszuführenden Tätigkeiten während der Alleinarbeit mit der Gefährdungsstufe „gering“ bewertet wurden.“

 

Noch einige abschließende Worte zur nicht-zulässigen Alleinarbeit: In der betrieblichen Praxis kann es unter Umständen vorkommen, dass eine zweite Person zwar delegiert, diese jedoch – vielleicht auch nur kurzfristig – nicht anwesend ist. Wer hilft dann, wenn etwas passiert? Deshalb sind Arbeitgeber gut beraten, die Beschäftigten auch in den Fällen, in denen sie eigentlich nicht allein tätig sind, mit einem Notrufsystem auszustatten.    

 

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