Unternehmenskultur, Sicherheitskultur, Präventionskultur – die Kultur-Kompositionen erleben auch im Arbeitsschutz eine hohe Konjunktur. Tatsächlich kann das, was wir gemeinhin als „Sicherheitskultur“ bezeichnen, das Fundament eines erfolgreichen Arbeitsschutzes bilden. Obwohl viele Sozialwissenschaftler der Meinung sind, dass Kultur evolutionär, aus sich selbst heraus entsteht, ist das Bestreben bei zahlreichen Arbeitsschutzverantwortlichen und Beratenden groß, eben diese Sicherheitskultur in den Betrieben zu „implementieren“, zu fördern, auszubauen. Gleichzeitig schreibt Prof. Dr. Ansgar Nünning zurecht: „Im Alltag wird das Wort ,Kultur‘ in so unterschiedlichen Bedeutungen und Kontexten verwendet, dass es zu einer Bedeutungserweiterung bis hin zu einer Sinnentleerung gekommen ist.“ Sinnentleerung ist jedoch nicht gut. Sinnentleerung reißt nicht mit, motiviert nicht. Sind wir mit „Sicherheitskultur“ also auf dem richtigen Weg?
Zumal die eine, nämlich die „Sicherheitskultur“, nicht ohne die andere, die „Unternehmenskultur“, gedacht werden kann. Und an der hängt wiederum die „Führungskultur“. Hartmut Böhme schrieb 1996 im von Renate Glaser und Matthias Luserke herausgegebenen Buch „Literaturwissenschaft – Kulturwissenschaft. Positionen, Themen, Perspektiven“ unter der Überschrift „Vom Cultus zur Kultur(wissenschaft). Zur historischen Semantik des Kulturbegriffs“: „Kultur ist die Kunst („ars“, „téchne“), durch welche Gesellschaften ihr Überleben und ihre Entwicklung in einer übermächtigen Natur sichern.“ Das trifft im übertragenen Sinn hervorragend auf die Unternehmenskultur zu, wenn man den Betrieb als Gesellschaft und die politischen, wirtschaftlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen als übermächtige Natur betrachtet. Der Vergleich hinkt keinesfalls. Die Sicherheitskultur, um dieses Bild zu vervollkommnen, wäre dann ein Teilaspekt dieser Kunst.
Sind wir uns bisher einig? Erstens: Kultur lässt sich nicht einfach verordnen. Zweitens: Sicherheitskultur ist abhängig von der Unternehmenskultur. Drittens: Alle Worte mit „Kultur“ hintendran gehen inzwischen zum einen Ohr rein und zum anderen wieder raus.
Zurück zur These im zweiten Satz dieses Beitrags: „Tatsächlich kann das, was wir gemeinhin als ,Sicherheitskultur‘ bezeichnen, das Fundament eines erfolgreichen Arbeitsschutzes bilden.“ Vielleicht sollte man zur Umgehung der vermeintlich sinnentleerten Begrifflichkeiten eher vom Ziel her denken und definieren, welche die faktischen Voraussetzungen für dieses Ziel sind. Das Ziel ist gesetzt: der erfolgreiche Arbeitsschutz.
Die faktischen Voraussetzungen für einen erfolgreichen Arbeitsschutz, über die Wahrnehmung der arbeitsschutzrechtlichen Pflichten (Organisationspflicht, Gefährdungsbeurteilung, Maßnahmenableitung, Unterweisung) durch den Arbeitgeber hinaus, ergeben sich letztlich aus dem Zusammenspiel zahlreicher weicher Faktoren, die in ihrer Summe jedoch eine harte Währung bilden. Einer dieser Faktoren wird unter Fachleuten immer wieder genannt: der Safety Mindset. „Safety Mindset beschreibt die Haltung und Denkweise der Mitarbeitenden und Führungskräfte zu Arbeitssicherheit“, erklärt die EHS-Beraterin Clara Röder auf ihrer Homepage. Safety Mindset ist somit eine Art psychologisch-mathematische Einheit, die quantifiziert werden und sich dynamisch nach oben oder unten entwickeln kann. Diese Einheit kann einen Wert Null haben, einen niedrigen Wert oder einen hohen. Dadurch ist der Safety Mindset einem Reifegradmodell sehr verwandt. Ein Reifegradmodell für den Arbeitsschutz entwickelte der DuPont-Mitarbeiter Berlin Bradley 1995, die sogenannte „Bradley-Kurve“.
Die Bradley-Kurve stellt Fehler- und Unfallhäufigkeit in einen Kontext mit der Unternehmenskultur. Sie beschreibt vier Phasen beziehungsweise Kategorien des sicherheitskulturellen Reifegrads, hier grob skizziert:
- Kategorie: reine rechtliche Pflichterfüllung (Mindestanforderungen) und Verlagerung der operativen Arbeitsschutzverantwortung auf alle Beschäftigten individuell
- Kategorie: Prinzip von Kontrolle und Bestrafung
- Kategorie: konstruktive Weiterentwicklung des Arbeitsschutzes durch alle betrieblichen Akteure
- Kategorie: ehrliche Verankerung des Arbeitsschutzes im Leitbild des Unternehmens
Der Experte Stefan Bartel schreibt bei Haufe Arbeitsschutz über die vierte Kategorie: „Es gelten hier zwei Regeln. Erstens: Im Zweifel hat immer Arbeitssicherheit Vorrang. Zweitens: Keine Arbeit ist so eilig, dass sie nicht auch sicher getan werden kann.“ In dieser Kategorie ist der Safety Mindset im Betrieb also am stärksten ausgeprägt, die Sicherheit bei der Arbeit schwingt immer mit, bei allen Mitarbeitenden. Das führt im Normalfall zu weniger Unfällen und einer gesünderen, produktiveren Belegschaft.
Wenn es so einfach wäre, alle Unternehmen in die vierte Kategorie der Bradley-Kurve zu entwickeln, befänden wir uns bereits im Arbeitsschutz-Paradies. Doch hier kommt wieder die bereits diagnostizierte Abhängigkeit der Sicherheitskultur von der Unternehmenskultur zum Tragen: In einem betrieblichen Umfeld, in dem kein Vertrauen herrscht, das von Druck und Kontrolle geprägt ist und in dem die Mitarbeitenden keine psychologische Sicherheit besitzen, kann nur schwierig Behaviour Based Safety (BBS), eine verhaltensbasierte Arbeitssicherheit entstehen. Und wo es diesen Grad der Entwicklung nicht gibt, kann die Sicherheitskultur (oder wie auch immer wir das Kind nennen) nicht zum Fundament eines erfolgreichen Arbeitsschutzes werden.